Zur Aktualität der Positionen Pierre Ramus‘

Pierre Ramus steht für einen gewaltlosen Kulturanarchismus, der dahin zielt, bestehende Denkformen in Frage zu stellen, eingelebte Gewohnheiten zu durchbrechen und so den Weg freizumachen für eine wahrhaft humane und konviviale Gestaltung des Daseins. Seine Gesellschafts- und Staatskritik geht einher mit klar formulierten Vorstellungen hinsichtlich einer Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse und zur Schaffung friedlicher Lebensumstände, die eine neue soziale Balance sicherstellen. Ramus‘ gedankliche Ansätze im Einzelnen:

  • Staat und Wirtschaft: Der Staat tritt als Verwalter eines Haushaltes auf, für den die kapitalistische Expansion den Ursprung jener Finanzmittel bildet, die die politische Herrschaft pekuniär absichern. Durch die Abgaben der Bürgerschaft und die Aufnahme von Schulden erhält das Staatsgefüge die Mittel zur Durchsetzung des Gewaltmonopols. Folgerichtig vertreten die Regierungen, die ihre reale Politik bevorzugt hinter verschlossenen Türen betreiben, primär die Interessen der kapitalistischen Wirtschaft.
  • Finanzmarkt-Kapitalismus: Nicht nur die Krisenanfälligkeit der modernen Weltwirtschaftsordnung zeigt dramatische Effekte. Im System konkurrierender „Standorte“ entscheidet das auf die Mühlen des Finanzgewerbes umgelenkte Privatkapital, welcher Landstrich gefördert und welcher ins Elend gestürzt wird. Grundsätzlich erzeugt das kapitalistische Geldwesen Verhaltensweisen, die solidarisches Handeln verdrängen.
  • Ambivalenz der Moderne: Innovationen können Wohlstand erzeugen, können aber auch die Lebensqualität einschränken. Die unentwegten Versuche etwa, in allen Lebenslagen Zeit einzusparen, führen dazu, dass Zeit ein zunehmend knapperes Gut wird. Das dynamische technologische Umfeld, der Drang nach „immer schneller, höher und besser“ richten sich letztlich gegen die Beziehungswelt des Menschen und gegen die Natur. Ein rationales Weltbild ist wichtig, es ersetzt aber nicht die Auseinandersetzung mit ethischen Grundfragen.
  • Wohnungsfrage, Grund und Boden: Die Anwendung des Eigentumsverhältnisses auf nichtproduzierbare Güter stellt eine klassische Fehlentwicklung dar. Als unvermehrbarer und knapper Faktor erhält Grund und Boden monopolartige Eigenschaften. Eigentümer von Bodenflächen profitieren von Pachterträgen, Wertsteigerungen und Spekulationsgewinnen, die besonders im städtischen Bereich zu einer beständigen Verteuerung des Wohnraumes führen.
  • „Wohlstand für Alle“ als ökonomische Forderung: Dem produzierenden Sektor ist die entscheidende Position in der Ökonomie zuzuordnen. In Ramus‘ Modell geht es darum, die Vorteile eines monopolbereinigten Marktsystems mit assoziativen und planenden Formen des Wirtschaftens zu kombinieren. Eine egalitäre Matrix-Organisation (Stichwort: Selbstverwaltung) hält er gegenüber dem Pyramiden-Prinzip („Herrschaft der Bosse“) für eindeutig menschengerechter.
  • Radikale dezentralisierte Demokratie: Das Zusammenleben von Menschen in überschaubaren Einheiten, grösser als die Familie, kleiner als ein nationales Gebilde, bietet nach Ramus die beste Voraussetzung für den Ausbau direktdemokratischer Strukturen. Die entscheidenden Diskussionen finden im lokalen Rahmen statt. Hier werden Ausschüsse gebildet (Gesundheit, Bildung, Infrastruktur) und die Delegierten für jene Gremien ausgewählt, die die Vernetzung der selbstverwalteten Gemeinden sichern. Die Delegierten bleiben stets ihrer Basis verpflichtet (Stichwort: imperatives Mandat). Zielsetzung auf höherer politischer Ebene ist nicht ein Parlament der Parteien, sondern ein Parlament der Regionen.
  • Föderalismus: Auf der Ebene des Nationalstaates bleiben zu viele Anliegen der Menschen auf der Strecke, folgerichtig werden die Rufe nach lokaler Autonomie lauter. Schottland, Katalonien, Korsika, das Baskenland und viele andere Regionen streben gegenwärtig nach Eigenständigkeit. Ramus formuliert die Überzeugung, dass basisdemokratische föderale Strukturen jeder Form des Zentralismus überlegen sind. Ein europäisches Einigungswerk hielten seine Vorläufer Pierre-Joseph Proudhon und Michail Bakunin ausschließlich auf der Basis des föderalen Prinzips für unterstützungswürdig.
  • Geschlechterbeziehungen, Reformpädagogik: Überzeugt davon, dass „beide Geschlechter gleichermaßen mit der Fähigkeit zu Wissenschaft und Kunst ausgestattet“ sind, tritt Ramus für die völlige Gleichstellung von Mann und Frau ein. Ein patriarchalisches Rollenverständnis oder das traditionelle Familienbild stellt er ebenso in Frage wie bürgerliche Normen und Werte insgesamt. An der Geburtenkontrolle, die er als wichtig erachtet, hat der Mann aktiv mitzuwirken. Einen zentralen Stellenwert bei Ramus hat das Bildungswesen, das sich an den natürlichen Neigungen und Vorstellungen der Heranwachsenden orientieren soll.
  • Entwicklungsziel Frieden: Als Antimilitarist und als Kriegsdienstverweigerer plädiert Ramus für abwägendes Denken und präventives Handeln, um Kriege zu vermeiden. Friedliche Verhältnisse, so Ramus, könnten aber erst nach der „Zerstörung sämtlicher Waffen- und Rüstungsbestände“ einkehren. In Zeiten, in denen vielerorts wieder ein verstärkter Bellizismus wahrzunehmen ist und etwa das Neutralitäts-Prinzip in Frage gestellt wird, sind Ramus‘ Thesen besonders aktuell.
  • Antifaschismus: Ramus steht für eine Haltung, die gegen jede Diskriminierung sowie gegen alle Formen des Rassismus gerichtet ist. Mehrmals wurde er in der Zwischenkriegszeit selbst zum Angriffsziel politischer Gewalt von rechts. Angesichts der schmerzlichen historischen Erfahrungen stellt der Antifaschismus einen wichtigen Grundwert dar, der sich gegen jeden Versuch einer Verhetzung, aber auch gegen falsche politische Weichenstellungen abgehobener Funktionseliten richten muss, die einem gesellschaftlichen Rechtsruck Vorschub leisten.
  • Kulturanarchismus: Ramus formuliert die Überzeugung, dass sich Unterwerfungsordnungen beständig verändern und sie nicht auf Dauer mit den Kategorien des 19. Jahrhunderts zu erfassen sein werden. Um der Eindimensionalität des Daseins im Kapitalismus, der Hegemonie bürgerlicher Institutionen und Werthaltungen entgegenzuwirken, soll nicht das „Schlechte“ bekämpft, sondern primär das „Gute“ gefördert werden. Ramus betont etwa die Rolle des Kunstsektors bei der Schaffung eines neuen gesellschaftlichen Bewusstseins. Der Psychotherapie ordnet er ebenfalls einen politischen Auftrag zu, mehr noch: in der Erforschung der Seele erkennt er ein Stück Revolution.